„Das biedere, um nicht zu sagen: phantasielose Handwerk der realpolitisch vereidigten Tatsachenmenschen reicht für die Krisenbewältigung in der gegenwärtig notwendigen Reichweite
nicht mehr aus. Europa ist auch ein Stück Friedensutopie; es ist ein Bruch in der langen Erzählgeschichte von Kriegen, Massenmorden und kollektiven Geisteskrankheiten.“
Oskar Negt – Gesellschaftsentwurf Europa, 2012
Vom 22. bis zum 25. Mai 2014 wird das Europaparlament neu gewählt. In Deutschland erfolgt die Stimmabgabe am Sonntag, den 25. Mai, also parallel zur Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen.
Da es bei der Europawahl keine Direkt-Wahlkreise gibt, erscheint die Wahl inhaltlich und personell in weiter Ferne zu liegen. Es geht nicht wie bei der Kommunalwahl um lokale Themen und lokales Personal. Trotzdem hat die europäische Politik direkt mit den Menschen im Mühlenkreis zu tun. Gerade in der aktuellen Zeit wird der Einfluss europäischer Politik auf das alltägliche Leben immer größer. Deshalb werden wir unseren Beitrag für den bundes- und europaweiten Wahlkampf leisten. In diesem Antrag wollen wir die inhaltlichen Grundlagen für unseren Europa-Wahlkampf festhalten:
Noch nie war Europa so wichtig wie heute
Die Europawahl hatte bislang sowohl für viele Bürgerinnen und Bürger als auch für die Parteien eine eher geringe Priorität. Bei der Europawahl 2009 machten in Deutschland nur 43,3% der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Dieses geringe Interesse an der europäischen Politik steht in einem Widerspruch zu der immer größer werdenden Bedeutung Europas. Parallel zum geringen Interesse entwickelt sich Skepsis gegenüber der europäischen Entwicklung. In ganz Europa erhielten rechtspopulistische Parteien und Bewegungen in den vergangenen Jahren Zulauf.
Dabei war ein starkes Europa noch nie so wichtig wie heute. Für uns steht die europäische Idee für die friedliche Entwicklung des gesamten Kontinents. Dort, wo lange nationalistischer Größenwahn, Feindschaft und Krieg geherrscht haben, liegt heute ein Garant des Friedens und der Zusammenarbeit und ein weltweites Vorbild. Die Forderung nach einem Wiedererstarken der Nationalstaaten trägt nicht nur die Gefahr eines neu aufbrechenden Nationalismus in sich, sondern ist auch aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen in der heutigen Zeit nicht sinnvoll. Eine globalisierte Wirtschaft braucht zur Steuerung und Kontrolle auch eine globalisierte Politik. Die Europäische Union ist eine nicht ersetzbare Größe, damit die europäische Politik noch Einfluss auf die globalisierte Wirtschaft nehmen kann.
Für die SPD Minden-Lübbecke ist der Europa-Wahlkampf kein überflüssiges Beiwerk zur Kommunalwahl. Für uns stehen zwei wichtige Wahlen an, die wir mit der gleichen Ernsthaftigkeit und der gleichen Mühe angehen werden. Kernaufgabe unseres Europa-Wahlkampfs muss es sein, die europäische Politik den Bürgerinnen und Bürgen näher zu bringen.
Die Krise der Finanzmärkte ist nicht die Krise der europäischen Politik
In der öffentlichen Diskussion wird Europa in allererster Linie in Zusammenhang mit der großen Finanzkrise diskutiert. Dabei unterliegt die öffentliche Diskussion in weiten Teilen dem Mythos, es handle sich um eine Staatsschuldenkrise. Die hohen Staatsschulden sind aber lediglich ein Symptom der Krise, nicht die Ursache und auch nicht das zu bekämpfende Übel. Verursacht wurde die Krise durch die Finanzmärkte, die dank immer weiter gehenden Liberalisierungen nicht mehr seitens der Staaten kontrollierbar waren. Die Krise ist deshalb – anders als von marktradikaler Seite dargestellt – eine Krise der Finanzmärkte und nicht der europäischen Politik.
Die gerade von der schwarz-gelben Bundesregierung unter Angela Merkel vorangetriebene Krisenbewältigungspolitik bekämpft damit auch nur die Symptome und nicht die Ursachen. Die aufgezwungenen Sparkurse – gerade in den südlichen Ländern der EU – fuhren nur in hohe Arbeitslosigkeit und weisen keinen Ausweg aus der Krise. Der Weg aus der Krise geht nur über mehr Vergemeinschaftung auf der europäischen Ebene.
Die Europäische Union wird heute weitestgehend nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als politische Union verstanden. Zur Wirtschafts- und Außenpolitik der Realität passt dieser Anspruch aber noch nicht. Die europäischen Staaten befinden sich zurzeit in einem Steuerwettbewerb, der es internationalen Großkonzernen ermöglicht, den Beitrag zur solidarischen Finanzierung der von ihnen genutzten Infrastruktur im verschwindend geringen Bereich zu halten. Dieser Steuerwettbewerb schadet allen europäischen Staaten und behindert die Weiterentwicklung.
Deshalb braucht es gerade in wirtschaftlichen Fragen eine gemeinsame europäische Linie in Form einer Wirtschaftsregierung, die unter demokratischer Kontrolle des europäischen Parlamentes steht.
Erste zentrale Aufgabe der gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik muss die Einführung einer Finanztransaktionssteuer sein. Diese ist zwar inzwischen in Deutschland – dank der SPD – in fast allen politischen Lagern Konsens, in Europa aber immer noch nicht umgesetzt. Gleichzeitig muss sich die europäische Krisenpolitik vom Sparzwang zur Investitionspolitik wandeln. Die hohe Arbeitslosigkeit Südeuropas, gerade unter Jugendlichen, birgt wesentlich größere politische und gesellschaftliche Gefahren als hohe Staatsschulden. Der Weg aus diesem Teufelskreis ist nur über europäische Solidarität und Mut zu Investitionen möglich. Ziel der gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik muss die Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa sein.
Gerechtigkeit muss auch global gesehen werden
Die europäische Verantwortung endet allerdings nicht mit den Grenzen der europäischen Staaten. Den Anspruch an Gerechtigkeit muss die Europäische Union auch global sehen. Wichtigste Bedingung dafür ist ein Ende der militanten Abschottung Flüchtlingen gegenüber. Der Einsatz der Außengrenzen- Sicherungsagentur Frontex verstößt im Prinzip gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und in der Praxis gegen grundlegende Menschenrechte. Den hohen moralischen Ansprüchen der EU widerspricht dieses Verhalten fundamental.
Das Dubliner-System des Umgangs mit Flüchtlingen hat sich grundlegend als nicht funktionierend erwiesen und gehört daher reformiert. Die Aufnahme von Flüchtlingen muss nach Kriterien der Gerechtigkeit zwischen den EU-Staaten und sozialen Mindeststandards für die Flüchtlinge geregelt werden. Automatische Abschiebungen in EU-Länder, die europäische Standards nicht erfüllen, darf es nicht geben. Langfristig wollen wir ein Europa der offenen Grenzen und eine gesamteuropäische Willkommenskultur. Die globale Verantwortung der europäischen Politik betrifft daher auch die Entwicklungspolitik.
Über die gemeinsame Agrarpolitik in Europa behindert die Europäische Union weiterhin eine funktionierende Entwicklungspolitik. Dank europäischer Landwirtschaftssubventionen werden
Überschüsse produziert und exportiert, die lokale Märkte in Entwicklungsländer zerstören. Die europäische Agrarpolitik braucht daher einen größeren Blick über den Tellerrand hinaus.
„Mehr Demokratie wagen“ ist hochaktuell
Demokratisch gesehen befindet sich die Europäische Union in einer Legitimationskrise. Die bedeutenden Entscheidungen auf europäischer Ebene werden in Institutionen gefällt, die für die Bürgerinnen und Bürger nur sehr indirekt beeinflussbar und annähernd gar nicht transparent sind.
Die Stärkung des europäischen Parlaments ist daher ein fundamental wichtiger Schritt zur Demokratisierung der EU. Zur Legitimation eines stärkeren Parlamentes bräuchte es auch eine europäische Medienöffentlichkeit. Da aber ein starkes Parlament und das Vorhandensein der europäischen Medienöffentlichkeit in Wechselwirkung zueinander stehen, darf das Fehlen der Medienöffentlichkeit nicht von einer Stärkung des Parlamentes abhalten.
Der alte Willy Brandt Satz: „Mehr Demokratie wagen“ ist aber nicht nur aufgrund der institutionellen Struktur der EU hochaktuell. Politische Macht wird immer weiter vom Öffentlichen ins Ökonomische verschoben, sodass die Entscheidungsmöglichkeiten demokratisch legitimierter Institutionen immer geringer werden.Ausdruck dessen sind die beiden Aussprüche Angela Merkels, die von ,,Alternativlosigkeit“ politischer Entscheidungen spricht und eine ,,marktkonforme Demokratie“ fordert.
Um die politischen Entscheidungsmöglichkeiten wieder zurück auf die staatliche Seite zu holen, braucht es einer starken Institution wie der EU. Die europäischen Nationalstaaten auf sich allein gestellt hätten in diesem Machtkampf um die Demokratie keine Chance. Neben der Wirtschaftsregulierung auf europäischer Ebene, der Schaffung gemeinsamer sozialer Mindeststandards und der Einschränkung der Finanzmärkte, wäre eine Schaffung einer europäischen öffentlich-rechtlichen Rating-Agentur sinnvoll. Eine Agentur, die zwar ohne politische Beeinflussung, dafür aber auch ohne private Gewinninteressen auskäme, wäre bei der Bekämpfung der Finanzkrise von großer Hilfe.
Zusammengefasst wünschen wir uns ein Europa der Zukunft das mehr Gerechtigkeit – auch global-, mehr Demokratie und mehr europäisches Miteinander wagt.
Beschlossen am: 28.02.2014