Der Beginn des offenen Angriffskrieges der Russischen Föderation auf das Gebiet der Ukraine am 24.02.2022 markiert eine „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) in der Friedens- und Sicherheitspolitik in Deutschland und Europa. Die jahrzehntelang wirksame europäische Sicherheitsarchitektur ist durch das faktische Handeln der russischen Regierung so gut wie vollständig vom Tisch gewischt worden. Bisherige außenpolitische Grundsätze Deutschlands (z. B. keine Waffenlieferungen in Krisengebiete) sind innerhalb von Tagen gefallen. Die Bundesregierung reagiert zur Zeit auf die akute Situation und versucht, zusammen mit den Verbündeten in EU und NATO und weiteren Staaten, den Konflikt nicht unbeherrschbar eskalieren zu lassen und dabei gleichzeitig die Ukraine in ihrem existentiellen Verteidigungskampf wirksam zu unterstützen. Das ist klassische Krisenpolitik, der es, notgedrungen, allerdings an langfristiger Orientierung fehlt.
Nach dem bisherigen Verlauf dieses Krieges mit klaren Hinweisen auf Kriegsverbrechen durch die russischen Truppen ist es nicht mehr vorstellbar, mit der derzeitigen russischen Regierung unter Wladimir Putin wieder zu normalen Beziehungen zu kommen. Selbst nach dem Ende der Kriegshandlungen droht ein kalter Krieg, der vielleicht unbeherrschbarer ist als der kalte Krieg in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Umso wichtiger ist es gerade für die SPD, jetzt über den Tag hinaus zu schauen und Positionen und Strategien zu diskutieren und zu entwickeln, die wieder Orientierung bieten und uns strategisch und politisch fundiert handlungsfähig machen können.
Die SPD ist geprägt von der Entspannungspolitik Willy Brandts. Dieser Idee fühlen wir uns weiterhin verpflichtet. Will man sie in die heutige Zeit übertragen, muss man aber stets wesentliche Merkmale der Entspannungspolitik bedenken: Sie darf weder naiv noch nostalgisch sein und darf auch keine demokratischen Werte relativieren. Wer das heutige Russland mit der Sowjetunion der 70er Jahre gleichsetzt, wird keine politischen Antworten auf die aktuelle Weltlage finden können.
So ist zunächst einmal notwendig, die richtigen Fragen zu stellen. Auf dieser Grundlage kann es dann zu ersten Positionierungen kommen.
Fragen:
→ Was war falsch an der Politik Deutschlands, der EU und der NATO gegenüber Russland in den vergangenen dreißig Jahren? Und vor allem: Welche Konsequenzen hat das für die Zukunft für den Umgang mit autoritär organisierten Staaten? Wie soll künftig mit autokratisch organisierten Staaten politisch umgegangen werden?
→ Was sind die Konsequenzen aus dem Scheitern des Afghanistan-Einsatzes? Wie stellen wir die Sicherheitssysteme gleichzeitig für Kriege wie den russischen Angriff auf die Ukraine als auch für die asymmetrischen Kriege und Konflikte auf der ganzen Welt ein?
→ Was bedeutet die Existenz von Atomwaffen bzw. deren Verfügbarkeit in den Händen autoritär organisierten Staaten wie Russland, China oder Nordkorea? Wie kann eine gewaltsame Machtpolitik durch (autoritär organisierte) Atommächte verhindert werden?
→ Wie können supranationale bzw. internationale Systeme wie die OSZE oder die UN wirkungsvoller organisiert werden? Wie kann eine globale Friedensordnung künftig wirkungsvoll durchgesetzt werden?
→ Welche Kompetenzen der Sicherheitspolitik wollen wir einer gemeinsamen europäischen Politik übertragen und welche Konsequenzen behalten wir in nationalstaatlicher Hand?
→ Wie kann wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Kooperation künftig zu einem effektiven Instrument für die Sicherung von Frieden und Freiheit weltweit werden, ohne sich in Abhängigkeit von autoritären Regimen zu begeben?
→ Wie kann die globale Verwirklichung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten künftig offensiv und wirksam unterstützt werden?
→ Wie kann eine Perspektive aussehen für ein Russland, das sich wieder in eine verlässliche Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa einbinden lassen will?
Vor dem Hintergrund dieser noch gründlich zu diskutierenden Fragen, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben, ergeben sich für die SPD in Minden-Lübbecke die folgenden ersten Ansätze für friedens- und sicherheitspolitische
Thesen und Positionen:
⊕ Grundlage und Orientierung der Außenpolitik in Deutschland und Europa müssen die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 und nachfolgende menschenrechtliche Verträge, das Prinzip der friedlichen Streitbeilegung, das Verbot der Androhung und Anwendung militärischer Gewalt in zwischenstaatlichen Beziehungen, die territoriale Integrität von Staaten sowie die Prinzipien aus der KSZE Schlussakte von 1975 sein.
⊕ Militärische Aggression ist ein Verbrechen. Neben den unmittelbaren Folgen für die betroffenen Menschen und Gesellschaften sind auch die Langzeitfolgen in der Regel massiv und dramatisch. Jeder Angriffskrieg ist daher grundsätzlich zu ächten und muss Folgen für den Aggressor haben. Die Mechanismen zur Verfolgung von Aggressoren müssen wirksamer ausgestaltet werden.
⊕ Ein Staat, der militärisch von außen angegriffen wird, hat das Recht, sich auch mit militärischen Mittel gegen eine solche Aggression angemessen zu verteidigen.
⊕ Wenn freiheitliche Staaten davor geschützt sein wollen, von bewaffneten autokratischen Staaten erpresst oder unterdrückt zu werden, müssen sie sich im Zweifel auch militärisch verteidigen können. Das soll möglichst im Verbund mit anderen freiheitlich und demokratisch organisierten Staaten organisiert werden. Dieses militärische Verteidigungspotential muss glaubwürdig effektiv, aber auch glaubwürdig defensiv sein.
⊕ Frieden und Sicherheit ist nicht ausschließlich, nicht einmal überwiegend, durch militärisches Potenzial sicherzustellen. Die Ursachen von Konflikten geraten sonst aus dem Fokus und werden nicht bearbeitet. Zu den Ursachen von Konflikten zwischen Staaten sowie anderer Konflikte, die in der Gefahr stehen, auch militärisch bzw. gewaltsam zu eskalieren, gehören weiterhin die ungleichen Lebensverhältnisse weltweit und der ungleiche und ungerechte Zugang zu Ressourcen und Lebenschancen. Durch den bereits begonnenen Klimawandel wird das noch weiter verschärft. Der Kampf gegen den Klimawandel bzw. der solidarische Umgang mit seinen Folgen und der Einsatz für globale Gerechtigkeit und Entwicklung sind daher eine wirkungsvolle Langzeit-Prävention gegen die Ursachen von Konflikten. Hierfür sind auch in Deutschland die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
⊕ Die Bundeswehr muss ihrer Aufgabe der Landesverteidigung im Kontext von EU und NATO nachkommen können und entsprechend ausgerüstet und organisiert sein und gleichzeitig Kapazitäten für Friedenssicherung bereithalten. Dies ist qualitativ zu definieren und dann mit dem notwendigen Ressourceneinsatz umzusetzen. Die Festlegung über einen fixen Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist weiterhin nicht sinnvoll.
⊕ Eine gemeinsame europäische Armee bleibt unser Ziel. Der Weg dahin wird ein langer Prozess sein, der genutzt werden kann, durch Effizienzgewinne abzurüsten, ohne die Sicherheitslage zu gefährden. Er muss Teil einer weiter voranschreitenden und umfassenden europäischen Integration sein. Dabei sind auch die Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäischen Union effektiver zu gestalten etwa durch Ersatz des Einstimmigkeitsprinzips durch qualifizierte Mehrheiten.
⊕ Abrüstung und Rüstungskontrolle bleiben die vorrangigen Ziele einer wirksamen Friedens- und Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung soll sich weiter für das Ziel „Global Zero“, also eine Welt ohne Atomwaffen, einsetzen.
⊕ Freiheitlich und demokratisch organisierte Staaten sollten sich gemeinsam und glaubwürdig dafür engagieren, dass Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit überall auf der Welt Geltung bekommen können. Dazu gehört auch eine selbstkritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte und der eigenen Verstöße gegen diese Rechte. Freiheitlich und demokratisch organisierte Staaten führen mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Kriege.
⊕ Wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Kooperationen haben das Potential, menschlichen Fortschritt überall auf der Welt zu fördern. Maßstab für Deutschland und die EU sollte künftig die Einhaltung der Menschenrechte bei den Kooperationspartnern sein und nicht wirtschaftliche oder geopolitische Machtinteressen. Hierfür sollten Deutschland und die EU auch offensiv bei Ihren demokratisch organisierten Partnern weltweit werben. Verstöße gegen die Menschenrechte müssen benannt werden und spürbarere Konsequenzen haben.
⊕ Menschliche Kontakte schaffen Vertrauen und Verständnis. Das gilt vor allem für persönliche Begegnungen zwischen Bürgerinnen und Bürgern sowie der Zivilgesellschaft. Sie auch mit den Menschen in autoritär organisierten Gesellschaften zu fördern, ist auch ein Beitrag für mehr Frieden und Sicherheit weltweit. Hier können Feindbilder ab- und freiheitlich-demokratisches Bewusstsein aufgebaut werden. Abschottung nutzt den autokratischen Regimen.
⊕ Um Verstöße gegen die internationale Friedens- und Sicherheitsordnung zu ahnden und wirkungsvoll für die Einhaltung der Menschenrechte zu sorgen, müssen sich die Vereinten Nationen effektiver organisieren. Die Struktur des Sicherheitsrats muss so überarbeitet werden, dass die Entscheidungen effektiver umgesetzt werden. Ein erster Schritt dazu muss sein, dass Staaten ihr Vetorecht verantwortungsvoll ausüben müssen. Zu begrüßen ist deshalb die Initiative des Fürstentums Liechtenstein, dass die Vetomächte ihr Votum begründen müssen. Grundsätzlich muss das Vetorecht ganz abgeschafft werden. Die geringe Wahrscheinlichkeit, dies in der aktuellen globalpolitischen Situation auch nur mittelfristig erreichen zu können, macht es nicht weniger notwendig. Schon es als Ziel zu formulieren, kann es mittel- bis langfristig auch wirkmächtig machen.
⊕ Der Markt als Ordnungsprinzip ist blind gegenüber sozialen, ökologischen und auch demokratischen Zielen bzw. politischen Interessen. Er sorgt idealerweise für ökonomische Effizienz. Das hat im Fall der Energiemärkte (billige russische Energieimporte) zu erheblichen politischen und strategischen Risiken geführt. Künftig dürfen Bereiche der existenziellen Grundversorgung, zu denen auch die Energieversorgung gehört, nicht mehr unregulierten Märkten ausgesetzt werden. Wir müssen uns insgesamt wirtschaftlich unabhängiger machen von autoritär organisierten Staaten, etwa durch Diversifizierung von Lieferbeziehungen. Dazu gehört auch eine offensive und investitionsfreudige europäische Industrie- und Energiepolitik.
Beschluss: Angenommen und Weiterleitung an die SPD-Bundestagsfraktion
Beschlossen am: 21.05.2022