Die Corona-Pandemie stellt uns alle vor ungeahnte Herausforderungen, ganz persönlich, aber auch als Gesellschaft. Viele Menschen sind verunsichert und in Sorge um ihre Gesundheit oder die ihrer Familien und Freunde. Sie sorgen sich um ihren Arbeitsplatz und ihre wirtschaftliche Zukunft. Sie versuchen ihren Alltag zu organisieren unter den erschwerten Bedingungen der erlassenen Regelungen zur Vermeidung von Kontakten.
Die Verantwortlichen in Politik und Verwaltungen im Bund, in den Ländern sowie in den Städten und Gemeinden haben die Herausforderung in diesen ersten Wochen der Krise in aller Regel gut gemeistert. Die beschlossenen Maßnahmen zum „Lockdown“ und damit zum Schutz vor Infektionen scheinen angemessen und abgewogen, die im Eiltempo bereit gestellten wirtschaftlichen Hilfen sind mutig und entschlossen. Die hohen Zustimmungswerte in der Bevölkerung zeigen, dass hier offensichtlich sowohl inhaltlich als auch kommunikativ gut gearbeitet worden ist.
Dabei gibt es weder die Sicherheit, dass alle Entscheidungen richtig waren, noch den Anspruch, jede Entscheidung rückblickend genauso wieder zu treffen. Eine kritisch-konstruktive Aufarbeitung der zu einem großen Teil als Anordnungen der Exekutive oder in sehr schnellen parlamentarischen Verfahren verhängten Maßnahmen ist deshalb unerlässlich, vor allem um Sicherheit und Konsens für künftige Situationen zu schaffen. Hier sind Maßstäbe zu finden, die sowohl (verfassungs-) rechtlich als auch politisch haltbar sind. So ist z.B. die Frage, wie in Zeiten einer medizinisch notwendigen Kontaktsperre die Ausübung demokratischer Rechte, wie z.B. das Demonstrationsrecht, möglich bleiben, noch nicht geklärt.
Es kommt für die politisch Verantwortlichen jetzt darauf an, die richtigen Schlüsse aus der aktuellen Entwicklung zu ziehen, symbolische Schnellschüsse ohne Wirkung zu vermeiden, sich gut beraten zu lassen, die Bedürfnisse der Menschen im Blick zu behalten und nicht zuletzt auch möglichst viele Perspektiven einzubeziehen und zu berücksichtigen. Für diese Situation gibt es keine Blaupause, deshalb sind auch Irrtümer und Fehler unvermeidlich. Um sie zu minimieren, sind Debatten und Diskurse zur Entscheidungsfindung unverzichtbar, auch und gerade, wenn sie kontrovers sind und manchmal ein bisschen Zeit kosten. Demokratie und Interessenausgleich sind keine Schönwetterveranstaltungen. Sie sind gerade in Krisenzeiten auch funktional.
Corona wird unsere Gesellschaft, unsere Welt, nachhaltig und unwiderruflich verändern. Das wird schon jetzt deutlich. Ob diese Veränderungen positiv oder negativ sein werden, hängt auch von uns ab. Entscheidend ist, ob wir die Erkenntnisse aus dieser Krise nutzen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Große politische und gesellschaftliche Veränderungen entstehen oft aus krisenhaften Situationen. Wenn wir in diesem Veränderungsprozess gestalten wollen und am Ende auch die richtigen Entscheidungen treffen wollen, brauchen wir Diskurse und Debatten. Und zwar jetzt. Nichts ist alternativlos, wir haben immer die Wahl. Vor allem, ob wir nur zuschauen und uns der Entwicklung oder den Interessen anderer ausliefern oder ob wir selbst aktiv werden und gestalten.
Aus der Krise Zukunft machen. Das muss das Ziel sein. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe als Gesellschaft und insbesondere als Sozialdemokrat*innen. Für uns ist vor allem eines wichtig: Bei der Bewältigung der Krise muss die große Mehrheit der Menschen mit ihren Interessen und Bedürfnissen im Blick behalten werden. Und eine gute Zukunft muss immer eine gerechte Zukunft sein. Die Diskussion darüber muss jetzt beginnen, bei aller Unsicherheit, wie die nächsten Wochen und Monate verlaufen werden. Für eine offene politische Zukunftsdebatte ist es nie zu früh. Es sei denn, man möchte sie eigentliche gar nicht führen. Jedenfalls nicht offen und transparent. Wir wollen das aber.
Das folgende Thesen- und Positionspapier soll ein Auftakt für eine solche Debatte sein. Es erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch darauf, inhaltlich schon in jedem Fall zu Ende gedacht zu sein. Ein Zukunftsdiskurs ist immer ein Prozess und damit offen und flexibel.
Wir wollen aber auf jeden Fall schon einmal die folgenden Themen und Positionen für diesen Diskurs setzen:
→ Nur gut ausgestattete und organisierte staatliche bzw. öffentliche Systeme sind in Krisenzeiten in der Lage, hochentwickelte und komplexe Gesellschaften vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Nur Staaten sind dann z.B. noch kreditwürdig und damit auch handlungsfähig. Sie müssen deshalb über ausreichende Ressourcen verfügen, sowohl personell als auch materiell.
Vor allem die Kommunen brauchen finanzielle Handlungsfähigkeit. Dafür müssen sie schnell aus der Abhängigkeit von der Gewerbesteuer in ihrer jetzigen Form gelöst werden. Wir brauchen eine Verständigung über krisenfeste Mindeststandards in der kommunalen Selbstverwaltung.
→ Demokratische Systeme mit funktionierender Gewaltenteilung (horizontal und vertikal) arbeiten auch in Krisenzeiten nachhaltig besser. Der – auch kontroverse – Diskurs ist notwendig, um einseitige und unausgewogene Lösungen zu verhindern. Eine grundlegende Machtverschiebung zu Gunsten der Exekutive mit der Folge einer Teil-Entmachtung der Legislative (und womöglich noch der Judikative) wäre genau der falsche und vor allem undemokratische Weg. Im Gegenteil: Die politische und gesellschaftliche Debatte als unverzichtbarer Teil der Entscheidungsfindung muss gestärkt und wertgeschätzt werden. Dazu gehört auch, nicht jede Kontroverse als „Streit“ oder „Zank“ negativ zu kommunizieren. Das ist die Verantwortung sowohl der politisch Handelnden als auch der Medien, die diese Debatten begleiten. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass sie noch breiter in der Gesellschaft geführt werden und Bürger*innen dazu ermuntern und ermutigen, sich an ihnen zu beteiligen.
→ Öffentliche Daseinsvorsorge ist kritische Infrastruktur und darf nicht Märkten ausgeliefert sein, die im Krisenfall kollabieren. Unser Gesundheitssystem gehört, wie wir jetzt überdeutlich sehen, dazu. Die Krankenhausfinanzierung muss deshalb auf eine andere Basis gestellt werden. Das jetzige System der Fallpauschalen schafft Fehlanreize. Im Mittelpunkt müssen wieder die Patientin und der Patient als Mensch stehen und nicht die Rendite des „Falles“.
Über einen gesetzlichen Privatisierungsschutz für Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge muss jetzt nachgedacht werden. Wir brauchen auch eine Debatte darüber, welche Teile von bereits privatisierter Daseinsvorsorge wieder unter öffentliche Kontrolle gehören.
→ Die Schulden, die im Rahmen der Corona-Krise aufgenommen werden, sollten zu einem nennenswerten Teil aus den großen Vermögen beglichen werden, z.B. durch eine Sondern-Vermögensabgabe und durch einen Aufschlag auf die Einkommensteuer für Großverdiener. Die jetzt sprunghaft steigende Verschuldung der öffentlichen Haushalte darf nicht zulasten der Gering- und Normalverdiener oder durch einen Kahlschlag sozialer und öffentlicher Leistungen wieder abgebaut werden.
→ Staatliche Hilfen für Unternehmen sollten, wo möglich, zu staatlichen Beteiligungen werden. Der Wirtschaftsstabilisierungsfond (WSF) sollte zum staatlichen Wirtschaftsbeteiligungsfond werden. Hierdurch könnten sich auch Möglichkeiten der betrieblichen und außerbetrieblichen Vermögungsbildung für Arbeitnehmer*innen ergeben.
→ Ein großer Teil der Menschen, die zurzeit dafür sorgen, dass „der Laden weiter läuft“, arbeitet in Branchen, in denen eher geringere Löhne gezahlt werden, wie z.B. Gesundheit und Pflege, Einzelhandel und Logistik, bei Rettungs- und Sicherheitsdiensten, in der Reinigungsbranche oder in der Landwirtschaft. Sie sorgen dafür, dass grundlegende gesellschaftliche Versorgungsfunktionen weiter bereitstehen. Sie müssen künftig besser und damit gerechter bezahlt werden. Hierfür muss der entsprechende ordnungspolitische Rahmen geschaffen werden, etwa durch die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen.
→ Die Verfügbarkeit von Medikamenten und anderen medizinischen Produkten muss durch Dezentralisierung der Produktion deutlich gesteigert werden. Darüber hinaus müssen Strategien entwickelt werden, wie pharmazeutische und medizinische Innovation und Neugründungen geschaffen werden können. Dies kann nicht ausschließlich dem Markt überlassen werden.
→ Europa muss sich jetzt beweisen durch Solidarität mit den besonders betroffenen Regionen in Italien, Spanien und Frankreich, auch finanziell. Medizinische Ressourcen müssen nach Notwendigkeit auch grenzübergreifend zur Verfügung gestellt werden. Die Forderungen nach “Corona-Bonds” (Euro-Bonds) ist richtig und gerade durch ein reiches Land wie Deutschland zu unterstützen.
→ Geschlossene Grenzen schützen im Ergebnis nicht vor einer Pandemie. Effektiver sind gesamteuropäische Absprachen und Lösungen sowie ein gemeinsames und abgestimmtes Vorgehen. Besonders betroffene Gebiete eine Zeit lang „abzuriegeln“, kann im Extremfall und für begrenzte Zeit sinnvoll sein. Nationale Grenzen sollten dabei jedoch keine Rolle spielen. Für einen Krankheitserreger haben sie jedenfalls keine Bedeutung. Quarantänegebiete müssen sich an epidemiologischen Notwendigkeiten orientieren und nicht an Staatsgrenzen. Sie können diese im Einzelfall sogar überschreiten. Hierfür braucht es durchsetzungsfähige Regelungen auf europäischer Ebene.
→ Die Folgen der Corona-Krise werden den Wandel in der Arbeitswelt voraussichtlich noch einmal beschleunigen. Weder die Arbeitnehmer*innen noch die Wirtschaft dürfen damit alleine gelassen werden. Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in die Fort- und Weiterbildung der Menschen müssen jetzt geplant, entwickelt und finanziert werden.
→ Die Wiederankurbelung der Konjunktur muss genutzt werden, um sozialen, digitalen und ökologischen Fortschritt zu erzielen. Konjunkturpakete sollen deshalb klare und kluge Prioritäten haben: Ausbau und Modernisierung von Schienennetzen und öffentlicher Mobilität sowie digitalen Netzen; massiver Ausbau von erneuerbaren Energien; Programme zum öffentlichen Wohnungsbau; Digitalisierung von Bildungseinrichtungen und Verwaltungen; Stärkung des Gesundheitssystems und der Kriseninfrastruktur.
→ Deutschland und die EU müssen in noch deutlich stärkerem Maße internationale Organisationen und einzelne Länder darin unterstützen, gefährdete Ökosysteme zu schützen und zu erhalten – auch zur Verhinderung neuer künftiger Pandemien.
Die Erfahrungen im Umgang mit der Corona-Pandemie werfen noch eine sehr generelle politische Frage auf: Wie verhältnismäßig ist eigentlich das bisherige politische und gesellschaftliche Nicht-Handeln in vielen existentiellen Politikfeldern im Vergleich zu dem, was gerade an Maßnahme ergriffen wird und an Ressourcen aufgewendet wird im Rahmen der Corona-Krise? Wir sollten uns diese Frage gerade jetzt bewusst stellen, um vielleicht neue Maßstäbe dafür zu gewinnen, was Politik und Gesellschaft alles positiv bewegen können, wenn wir uns nicht in Kleinmut, Gleichgültigkeit oder sogar Zynismus verlieren.
In der Corona-Krise stehen die Menschen und ihr Wohlergehen, ihre körperliche Unversehrtheit, ihre Gesundheit, im Mittelpunkt. Das ist gut so und entspricht den Grundgedanken eines humanistischen Weltbildes. Gesamtgesellschaftliche Solidarität soll dazu beitragen, dass möglichst jede*r Einzelne geschützt werden kann. Dieses Prinzip auch künftig systematisch stärker in „normalen“ politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozess zu Grunde zu legen, sollte eine Konsequenz hieraus sein.
Die Corona-Krise und der Umgang damit kann somit einen Anstoß dafür geben, welche großen Potentiale für eine positive Zukunftsgestaltung tatsächlich vorhanden sind. Für uns Sozialdemokrat*innen bedeutet eine gute Zukunft immer, dass die Interessen und das Wohlergehen aller Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht nur einiger Weniger.
Gehen wir es gemeinsam an.
Beschlossen im Kreisvorstand: Mai 2020