Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine markiert einen Bruch: Über Jahrzehnte hinweg wurde eine europäische Ordnung errichtet, deren Ziel es stets war – auch durch eine Einbindung Russlands – Wohlstand und Frieden auf dem europäischen Kontinent zu sichern. Unvorstellbar erschien es uns allen, dass diese menschenverachtende Grausamkeit und ein solcher Krieg noch einmal auf diesem Kontinent stattfinden würden.
Zurecht sprechen wir dabei von einer historischen Zäsur. Bundeskanzler Olaf Scholz hat diese Ereignisse bereits am 27. Februar 2022 – drei Tage nach dem erneuten Ausbruch des Krieges in der Ukraine – in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag eingeordnet und mit dem Begriff `Zeitenwende´ die Leitplanken gesetzt, wie wir über die Auswirkungen dieses Angriffskrieges in Europa vor den Toren der Europäischen Union denken und sprechen. Neben der Ankündigung einer Kursänderung in der deutschen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, hat der Bundeskanzler in seiner Rede die Umrisse einer mehrdimensionalen Zeitenwende auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene umschrieben.
Der Begriff Zeitenwende beinhaltet dabei per Definition ein Faktum, welches in der öffentlichen Debatte noch zu selten vom Ende her gedacht wird: Eine Rückkehr zum status quo ante kann und wird es nicht geben. Weder in der Sicherheitspolitik, noch in anderen Politikfeldern. Zu ebendiesen Politikfeldern zählt die Energiepolitik, in der ein Wandel in einem für Wirtschaft und Gesellschaft elementar wichtigem Politikfeld in einer noch nie dagewesen Geschwindigkeit umgesetzt wird. Ziel ist dabei, die Abhängigkeit von Russland zu beenden – und zwar jene Deutschlands sowie jene der Europäischen Union – und dabei zugleich mit der nachhaltigen Transformation eine der zentralen Zukunftsaufgaben beschleunigt anzupacken.
Um diese Zeitenwende, um eine gute Zukunft unter elementar neuen Rahmenbedingungen zu gestalten, bedarf es insbesondere auch einer Zeitenwende für eine noch weiter gestärkte Europäischen Union. Nicht nur um die Auswirkungen für Ökonomie und Gesellschaft in einem großen Wirtschaftsraum gestaltbar zu halten, sondern auch um nach außen eine regelbasierte, internationale Ordnung, offene und faire globale Wirtschaftsbeziehungen, letztlich Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit zu verteidigen, braucht es eine kraftvolle und handlungsfähige europäische Stimme.
Dies kann dann gelingen, wenn die Europäische Union von innen heraus geschlossen, handlungsfähig und stark ist. Dafür benötigt es Weichenstellungen für ein souveränes Europa.
Die EU ist eine Schicksalsgemeinschaft, gebaut auf einem Fundament gemeinsamer Grundwerte von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sowie einem gemeinsamen Verständnis eines sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders, das mit seinem Wohlstand allen Bürgerinnen und Bürgern ein gutes Leben ermöglicht.
Zur Erreichung dieser Ziele, das zeigen uns die jüngsten Ereignisse, ist ein eigenständiges, unabhängiges Handeln unablässig. Die Stärkung der europäischen Souveränität ist das Gebot der Stunde. Doch machen wir uns nichts vor, auch in den vergangenen Jahren wurde bereits zunehmend klarer, dass sich nur ein souveränes Europa in der von Geopolitik geprägten globalen Ökonomie behaupten kann und seine eigene Wirtschaft sowie die Resilienz der sozialstaatlichen System schützen und stärken kann: Durch die Entwicklung von globalen Standards, durch den Schutz von Schlüsselindustrien und kritischer Infrastruktur und durch den Ausbau eigener, insbesondere digitaler Kapazitäten.
Für mich ist eines klar: Die Europäische Union ist und bleibt eine offene Volkswirtschaft! Daran wird Putin mit seinem Angriffskrieg nichts verändern. Im Gegenteil: Fester denn je stehen wir zusammen mit unseren Partnern, unser Wohlstand hängt in erheblichem Maße vom globalen Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Wissen und Technologien ab – das wird auch so bleiben. Und diese offene Handelsordnung müssen wir auch weiterhin mit einer aktiven, auf Fairness und Partnerschaft gerichteten gemeinsamen Handelspolitik der EU gestalten.
Die kluge Antwort der Europäischen Union auf den Angriffskrieg ist es, die multilaterale Ordnung zu stärken und das internationale Recht zu achten und zu verteidigen. Die Aufgabe der Politik ist es nun, ein Rahmenwerk zu schaffen, welches unsere soziale Marktwirtschaft einbettet in ein System mit fairem Wettbewerb, hohen sozialen Standards, geschützt vor negativen ökonomischen Einflussnahmen und Abhängigkeiten.
Es ist wichtig zu betonen, dass daran auch die veränderte internationale Lage nichts ändern wird. Es liegt weiterhin in unserem wirtschaftlichen Interesse, offen und mit internationalen Partnern in einer multilateralen Ordnung eng verbunden zu sein, in der das internationale Recht geachtet und verteidigt wird und die sich für fairen Wettbewerb und soziale Standards einsetzt. Indem wir parallel die Diversität, Robustheit und Leistungsfähigkeit der sozialen europäischen Marktwirtschaft steigern, stärken wir die ökonomische Souveränität Europas. Auf diese Weise können wir gleichzeitig globales Gestaltungspotenzial entfalten und unsere soziale Marktwirtschaft vor negativen ökonomischen Einflussnahmen und Abhängigkeiten von anderen Ländern schützen. Technologieführerschaft ermöglicht wirtschaftliche und soziale Gestaltung nach eigenen Regeln und das Aushandeln von fairen globalen Regeln auf Augenhöhe. Aus einer resilienten, starken Europäischen Union im Inneren erwächst auch ein starke Europäische Union im Äußeren.
Um eines der vorderdringlichsten Ziele – die Unabhängigkeit von Russland in Fragen der Energieversorgung – zu erreichen, wird sich der Ausbau erneuerbarer Energien, wie im Kontext des EU Green Deal bereits angelegt, stark beschleunigen. Wir werden in diesen und vielen anderen Bereichen eine wirtschaftliche Transformation hin zu einer nachhaltigen und digitalen EU erleben. Dafür braucht es massive Investitionen von privater und öffentlicher Seite. Nach diesem Ziel werden die Rahmenbedingungen der EU, und hierzu zählt auch der Stabilitäts- und Wachstumspakt, auszurichten sein. In der Corona-Pandemie hat die EU durch die Schaffung des Wiederaufbauprogramms NextGenerationEU bewiesen, dass solidarische Wirtschafts- und Finanzinstrumente keine utopische Idee, sondern wirksame Mittel sind, um Europa zusammenzuhalten und insbesondere den von der Pandemie am stärksten betroffenen Mitgliedsstaaten wichtige Impulse für die Zukunft zu geben.
Diese positive Erfahrung sollten wir als Modell auch für die Zukunft weiterentwickeln und Schritt für Schritt in eine starke dauerhafte Investitionskapazität überführen, finanziert auch durch neue EU-Eigenmittel. Diesen Kurs hat die Europäische Kommission durch Legislativvorschläge bereits eingeschlagen und sollte diesen weiterverfolgen. Denn: Die Handlungsfähigkeit eines souveränen Europas der Zukunft setzt dauerhaft starke und europäisch abgestimmte Zukunftsinvestitionen voraus.
Um diese und weitere Weichen hin zu einem souveränen Europa stellen zu können, braucht es zudem neue politische Rahmenbedingungen mit dem Ziel der Schaffung einer sozialen, transparenten und entscheidungsfreudigen Europäischen Union.
Nur wenn die Europäische Union es schafft, die ökonomischen Auswirkungen dieser massiven wirtschaftspolitischen Transformation für die Bürgerinnen und Bürger politisch mit gemeinsamen Regeln sozial zu gestalten, wird sie die nötige innere Geschlossenheit erzeugen können. Existenzsichernde Mindestlöhne in der EU, ein europaweites Sicherungsnetz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ein Rahmen für Systeme der nationalen Grundsicherung sowie das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort sind nur einige Beispiele dafür.
Die europäische Reaktion auf die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass dies keine Tagträume sind. Mit dem Hilfsprogramm SURE wurde in einem gemeinsamen Kraftakt aller Mitgliedsstaaten einer 100 Mrd. Euro schwerer Topf geschaffen, der auf nationaler Ebene arbeitspolitische Maßnahmen zur Sicherung von Beschäftigung ermöglicht und somit unzählige Arbeitsplätze innerhalb der gesamten Europäische Union während der Corona-Pandemie erhalten hat. Darauf sollte die EU aufbauen. Zentral ist, dass die nationalen Sozial- und Bildungssysteme vor allem wegen ihrer stabilisierenden Funktion in Krisen und Transformationszeiten funktionieren und gefördert werden. Das soziale Europa ist gerade in dieser Zeit der Zeitenwende ein mit neuem Leben zu füllendes Zukunftsprojekt.
Hinzutreten müssen zugleich neue politische und institutionelle Weichenstellungen für die EU. Besonders verdeutlicht haben dies auch die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union. Die Ideen, die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam mit EU-Parlamentariern und den Mitgliedsstaaten über ein Jahr lang entwickelt und ausgearbeitet haben, bieten viele gute, fortschrittliche Anknüpfungspunkte. Nicht nur deshalb, da sie Impulse für eine transparentere EU-Politik setzen, die durch Nähe eine neue Chance zur Weiterentwicklung des grenzübergreifendes Gemeinschaftsgefühl gibt, sondern auch, da es gerade jetzt eine kluge Erweiterungs- und Integrationspolitik bedarf, die die Europäische Union im Lichte neuer Herausforderungen handlungsfähig hält. Konkret bedeutet dies, dass es neben mehr Transparenz in der Entscheidungsfindung, auch institutioneller Veränderungen bedarf, für die der Wegfall des Einstimmigkeitsprinzips in der Außen- und Sicherheitspolitik oder auch der Steuerpolitik Beispiele sind. Mit dieser Forderung wird auch klar: Die Europäische Union steht erst am Anfang einer neuen Zeit.
Die EU hat in den Krisen der vergangenen Jahre alles in allem gezeigt, dass sie geschlossen und handlungsfähig agieren kann: etwa durch das Wiederaufbauprogramm NextGenerationEU, durch scharfe gemeinsame Sanktionen gegenüber Russland, durch gemeinsame Impulse für nachhaltige Transformation und den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Darauf gilt es nun aufzubauen, um die Zeitenwende und die neuen großen Herausforderungen dafür zu nutzen, die europäische Integration zukunftsgerichtet weiter zu vertiefen – in Richtung eines nach außen souveränen und nach innen wirtschaftlich innovativen und sozial gerechten Europas.
Das ist eine Aufgabe, die mehr denn je sozialdemokratische Impulse und eine aktive Europapolitik Deutschlands in den kommenden Jahren verlangen wird. Wir dürfen es gerade jetzt nicht zulassen, dass neue und alte Nationalisten, Verschwörungstheoretiker und Demokratiefeinde die Krisen und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgewirkungen dazu ausnutzen, um Freiheit, Demokratie und Zusammenhalt in Europa zu untergraben. Die Zeitenwende birgt auch die Gefahr eines Scheiterns von notwendiger Transformation und politischem Fortschritt. Umso mehr gilt es mit Mut, Umsicht und einem klaren Fokus auf die Stärkung Europas und seiner Souveränität die Herausforderungen der Zeitenwende zu gestalten.
Zum Autor: Achim Post ist SPD-Bundestagsabgeordneter für den Kreis Minden-Lübbecke und stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion/Artikel zuerst erschienen auf dem blog politische ökonomie