Gipfel in Kopenhagen: Als die EU um zehn Staaten wuchs
Beim EU-Gipfel in Kopenhagen wurde am 13. Dezember 2002 die Aufnahme zehn osteuropäischer Staaten beschlossen. Es war die größte Erweiterung in der Geschichte der EU. Für die Aufnahme weiterer Länder sollten wir daraus Lehren ziehen.
Vor 20 Jahren stellte der Kopenhagener EU-Gipfel die Weichen für die größte Erweiterung in der Geschichte der europäischen Integration. Und formulierte das Ziel, Europa zu einem „Kontinent der Demokratie, der Freiheit, des Friedens und des Fortschritts zu machen“. Ein großer Schritt für die Einigung unseres Kontinents. Und ein großes Ziel für die Zukunft der EU. 20 Jahre später können wir festhalten: Die Ost-Erweiterung Europas war ein richtiger, historischer Meilenstein. Doch es bleibt auch noch Manches zu tun, damit in Europa zusammenwächst, was zusammengehört.
Auf Ernüchterung folgte eine Erfolgsgeschichte
Der Kopenhagener Gipfel legte den Grundstein dafür, dass am 1. Mai 2004 die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern der EU beitreten konnten. Mit der Aufnahme der zehn Staaten aus dem Osten und Süden Europas wuchs die Gemeinschaft damals um etwa 75 Millionen Menschen. Anfang 2007 wurden darüber hinaus noch Rumänien und Bulgarien in die EU aufgenommen, 2013 folgte Kroatien.
So richtig es ist, dass auf die große Euphorie des Anfangs in nicht wenigen neuen Mitgliedstaaten auch Ernüchterung folgte. Der wirtschaftliche Aufbruch durch den Beitritt zum europäischen Binnenmarkt stellte sich nicht so unmittelbar und einfach ein wie teilweise erhofft. So richtig ist aber auch, dass mittlerweile die EU-Erweiterung für die EU insgesamt genauso wie für die beigetretenen Staaten Mittel- und Osteuropas alles in allem zu einer Erfolgsgeschichte geworden ist. Die Wirtschaften der Länder Mittel- und Osteuropas tragen maßgeblich zu Innovation und Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Binnenmarktes bei. Umgekehrt stärken der Zugang zum Binnenmarkt und die EU-Strukturhilfen Wachstum und Wohlstand in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten.
Eine wichtige Rolle der Sozialdemokratie
Diese Bilanz kann sich sehen lassen. Doch bei realistischer Betrachtung bestehen auch Probleme und Herausforderungen fort. So gibt es durchaus noch immer politisch Verantwortliche in Westeuropa, die mit Skepsis, teilweise auch gewisser Herablassung auf die Länder Mittel- und Osteuropas schauen – und das nicht nur in Reihen der äußersten politischen Rechten. Diesen Haltungen klar zu widersprechen, sie zu überwinden bleibt eine fortdauernde Aufgabe und ist wichtige Voraussetzung dafür, dass das Band der europäischen Einheit stark genug ist, um auch die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam zu meistern.
Als deutsche und europäische Sozialdemokratie haben wir entscheidend mit dazu beigetragen, dass es damals gelungen ist, den notwendigen Konsens für diesen so wichtigen Erweiterungsschritt der EU zu erreichen. Ein klarer politischer Kurs und die engen Kontakte zu unseren sozialdemokratischen Schwesterparteien gerade auch in Mittel- und Osteuropa waren dafür die Grundlage. Und in den folgenden Jahren waren wir es, die sich in besonderer Weise darum bemüht haben, die Verbindungen zu unseren mittel- und osteuropäischen Partnern zu vertiefen – sei es im Rahmen der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), sei es über Initiativen der SPD wie etwa regelmäßige Treffen der sozialdemokratischen Parteivorsitzenden aus Mittel- und Osteuropa. Und natürlich über die ebenso wichtige wie kontinuierliche Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung in und mit den Schwesterparteien der Region.
Rechtsstaastverletzungen müssen sanktioniert werden
Doch es trifft auch zu: Der Angriff Russlands auf die Ukraine und die mit ihm verbundene Zeitwende haben neue Fragen aufgeworfen, die auch eine selbstkritische Neubewertung des Verhältnisses zu unseren osteuropäischen Nachbarn notwendig machen. Wir müssen uns auch als Sozialdemokratie der Frage stellen, ob wir in den vergangenen Jahren tatsächlich die Interessen und Sorgen unserer osteuropäischen Partner ausreichend berücksichtigt haben oder ob eine noch engere Einbindung und Abstimmung auch bei schwierigen Themen notwendig gewesen wäre. Ich bin froh, dass unser Parteivorsitzender Lars Klingbeil genau über Fragen wie diese eine Debatte der europa- und außenpolitischen Neuausrichtung angestoßen hat.
Auf der anderen Seite können und dürfen wir natürlich die Augen auch davor nicht verschließen, dass gerade in Ungarn und Polen rechte Regierungen eine Entwicklung vorantreiben, die die europäischen Werte der Freiheit und Demokratie massiv untergraben. Besonders in Ungarn sind Demokratie und Rechtstaatlichkeit bereits jetzt in erheblichem Ausmaß strukturell beschädigt. Hierüber kann und darf die europäische Politik nicht hinweggehen. Und deshalb ist es auch richtig, dass die EU-Kommission, angetrieben gerade auch vom Europäischen Parlament, dies gegenüber den Regierungen in Ungarn und Polen immer wieder deutlich macht. Mit dem EU-Konditionalitätsmechanismus, auf dessen Basis EU-Strukturmittel bei begründeten Zweifeln an ihrer rechtstaatlichen Verwendung einbehalten werden können, besteht ein neues Instrument, das jetzt erstmals gegenüber Ungarn zur Anwendung kommt. Die europäische Demokratie ist also alles andere als wehrlos.
Lehren für künftige EU-Erweiterungen
20 Jahre nach dem Gipfel in Kopenhagen lohnt es zudem den Blick auf die heutige Erweiterungsdebatte zu richten. Erweiterungspolitik gehört auch heute auf die europäische Agenda – als Teil einer vorausschauenden Friedenspolitik in unserer europäischen Nachbarschaft genauso wie als Antwort auf neue geostrategische Herausforderungen durch Einflussversuche anderer Mächte auf eine Region wie zum Beispiel den westlichen Balkan. Umso richtiger ist es, dass Bundeskanzler Olaf Scholz einen echten politischen Schwerpunkt darauf legt, die schon so lange bestehende Beitrittsperspektive gerade dieser Region, der Staaten des westlichen Balkans, endlich mit Leben zu füllen.
In Albanien und Nordmazedonien waren und sind es in vorderster Front sozialdemokratische Regierungen, die mit einem pro-europäischen Reformkurs enorme Fortschritte auf dem europäischen Weg beider Länder erreicht haben. Darauf gilt es jetzt in den Beitrittsgesprächen konstruktiv aufzubauen. Und auch Beitrittsperspektiven für die Ukraine, die Republik Moldau sowie Georgien sind in dieser schwierigen Zeit ein richtiges Zukunftssignal. Zugleich rückt mit der neuen Dynamik in der Erweiterungsdebatte die Notwendigkeit innerer Reformen der EU zusätzlich in den Fokus. Ein erweitertes Europa wird sein Gewicht in der Welt nur dann ausspielen können und im Inneren zusammenhalten, wenn es seine Handlungsfähigkeit weiter stärt. Erweiterung und Vertiefung müssen Hand in Hand gehen. Olaf Scholz hat in seiner Prager Europarede dafür realistische Reformschritte aufgezeigt, an denen wir nun gemeinsam weiterarbeiten müssen.
Die Einheit unseres Kontinentes ist nicht nur die einzig richtige Schlussfolgerung aus der Trennung der Vergangenheit. Sie ist auch die dringend notwendige Antwort auf die Zeitenwende und die mit ihr verbundenen verschärften wirtschafts-, sicherheits- und geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit. 20 Jahre nach dem Gipfel in Kopenhagen hat die Notwendigkeit einer klugen und vorausschauenden Erweiterungs- und Integrationspolitik für ein geeintes Europa nichts an Relevanz und Aktualität eingebüßt. Und genau das ist eine Aufgabe, bei der es ganz entscheidend auch weiter auf die deutsche und europäische Sozialdemokratie, auf unsere Impulse für Fortschritt und Zusammenhalt in Europa ankommen wird.
Zum Autor: Achim Post ist SPD-Bundestagsabgeordneter für den Kreis Minden-Lübbecke und stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion/Artikel zuerst erschienen beim Vorwärts