Zeitenwende in der EU: So muss sich Europa jetzt beweisen
Europa ist ein Kontinent des Friedens. Diese Realität ist von Präsident Putin in Kiew, in Mariupol, in Charkiw, in den vielen anderen Städten und Orten der Ukraine brutal zerstört worden. Klar ist jedoch auch: Europa wird wieder ein Kontinent des Friedens sein. Putin darf und wird diesen Krieg nicht gewinnen.
Und dennoch: Die Auswirkungen der menschenverachtenden Taten Putins schaffen eine neue Realität auf unserem Kontinent, für die Europäische Union und für unsere Politik. Bundeskanzler Olaf Scholz hat richtigerweise von einer Zeitenwende gesprochen.
Und natürlich bedeutet das auch eine Zeitenwende für das Friedensprojekt Europa – für die Europäische Union. Mehr denn je brauchen wir ein starkes geeintes Europa in der Krise. Mehr denn je muss sich Europa aber auch gerade jetzt politisch beweisen.
Handlungsfähigkeit und Zusammenhalt
Im Kern geht es in den kommenden Wochen und Monaten um zweierlei: Handlungsfähigkeit und Zusammenhalt. Beides ist eng miteinander verbunden. Handlungsfähigkeit setzt Zusammenhalt voraus. Das mag wie eine Binsenweisheit klingen, ist es aber nicht.
Denn gerade jetzt in der Krise brauchen wir mehr denn je eine geschlossene Europäische Union, die mit einer Stimme spricht, die sich auch bei schwierigen Fragen – wie der nach Waffenlieferungen, Sanktionen oder dem Umgang mit den hohen Energiepreisen – nicht auseinanderdividieren lässt. Das mag teils schwierige Kompromisse erfordern. Die Spaltung Europas wäre aber die weitaus schlechtere Alternative.
Und Europa hat bereits bis hierin durchaus Handlungsfähigkeit und Zusammenhalt bewiesen: Bei der humanitären und wirtschaftlichen Hilfe für die Ukraine und bei der Aufnahme von Geflüchteten. Durch Waffenlieferungen an die Ukraine und deren Finanzierung durch die EU selbst wie durch Deutschland und etliche weitere Mitgliedstaaten. Durch den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien und der Energieunabhängigkeit Europas. Durch scharfe, beispiellose Sanktionen gegen Russland und das Regime Putin – von Sanktionen gegen Personen, über gezielte finanzielle Sanktionen, bis hin zu Sanktionen im Energiesektor wie dem Importstopp bei Kohle und dem Öl-Embargo, für das nun auf dem Europäischen Rat ein tragfähiger Kompromiss gefunden werden sollte.
Und diese Sanktionen, eng abgestimmt besonders mit den USA, wirken. Die Botschaft an Putin ist und bleibt klar: Mit jedem weiteren Tag seines Angriffskrieges schadet er sich und seiner Wirtschaft massiv.
Fiskalische Spielräume in der Krise
Zugleich gilt: In dieser Zeit der Krise und fortdauernden wirtschaftlichen Unsicherheit braucht die EU und brauchen die EU-Mitgliedstaaten auch weiterhin fiskalische Spielräume. Der jüngste Vorschlag der EU-Kommission zur Aussetzung der EU-Schuldenregeln auch im kommenden Jahr ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar und vernünftig. Hinzu kommt, dass die Kommission ein ausgewogenes Vorgehen vorschlägt, indem sie das Aussetzen des Paktes an fiskalpolitische Leitplanken bindet.
Wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, welche Rolle eine kluge Fiskalpolitik für die Stabilisierung der Wirtschaft spielen kann. Diese staatliche Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten bleibt weiter wichtig. So vernünftig es sicher ist, nach der Krise den Einstieg in eine neue Phase der Konsolidierung zu finden. So richtig ist es zugleich, diese Entscheidung nicht vorab am Reißbrett oder anhand kurzfristiger politischer Opportunitäten zu treffen, sondern in Abhängigkeit der weiteren Krisenentwicklung und der mit ihr verbundenen politischen Aufgaben.
Darüber hinaus bleibt es unverändert wichtig, die Debatte über die notwendige Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes fortzuführen – mit dem Ziel, Zukunftsinvestitionen zu ermöglichen, realistische Regeln zum Schuldenabbau zu verankern sowie zugleich die Nachvollziehbarkeit und Transparenz des Paktes zu verbessern. Es ist gut, dass die EU-Kommission einen ersten Aufschlag für eine solche Reform der EU-Schuldenregeln noch in diesem Jahr präsentieren will.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt braucht ein Update, das ihn auf die Höhe der aktuellen und künftigen Herausforderungen bringt. Eine kluge deutsche Europapolitik muss hierfür Brücken zwischen den unterschiedlichen Positionen in Europa bauen. Der Koalitionsvertrag ist dafür eine gute Ausgangsbasis.
Ein Zeitfenster für europäischen Fortschritt
Neben den aktuellen Aufgaben muss es ebenfalls gelingen, das Zeitfenster der kommenden Monate dafür zu nutzen, die Handlungsfähigkeit und den Zusammenhalt Europas für die Zukunft zu stärken.
Die EU-Zukunftskonferenz, deren Ergebnisse im Mai vorgelegt wurden, hat dafür viele gute Impulse gegeben. In einem innovativen demokratischen Prozess haben Bürgerinnen und Bürger Vorschläge gemacht, wie die EU transparenter, schneller, bürgernäher und zukunftsorientierter Entscheidungen fällen kann. Dieser Prozess darf nicht in den Mühlen der europäischen Politik zerrieben werden. Die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten tun gut daran, die Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger konstruktiv zu prüfen und möglichst viele in praktischen europäischen Fortschritt umzumünzen.
Wo immer es möglich ist, sollte dies im Rahmen der geltenden EU-Verträge geschehen. Wo dies jedoch an Grenzen stößt, weil für die Umsetzung der Vorschläge Vertragsänderungen nötig sind, da sollten wir auch die Einberufung eines Europäischen Konventes in Betracht ziehen und dann auch versuchen, für ihn die notwendige breite politische Unterstützung zu mobilisieren.
Die Europäische Union zeigt in der Bewältigung der jüngsten Krisen alles in allem Mut, Solidarität und Handlungsfähigkeit. Ebenso steht sie jedoch vor großen Zukunftsherausforderungen, vor denen wir nicht zurückschrecken, sondern die wir nun mit Tatkraft und Gestaltungswillen anpacken sollten – gemeinsam als Europäerinnen und Europäer.
Zum Autor: Achim Post ist SPD-Bundestagsabgeordneter für den Kreis Minden-Lübbecke und stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion/Artikel zuerst erschienen auf T-Online.de