Nach Corona kommt es auf das Soziale an

Durch die Fortschritte beim Impfen rückt das normale Leben von vor Corona wieder in Sichtweite. Aber die Pandemie wird soziale Folgen haben, die uns noch lange beschäftigen werden, auch für unsere Demokratie. Darauf braucht es politische Antworten.

Als die Corona-Pandemie im März 2020 Deutschland erreichte, wurde „Soziale Distanzierung“ schnell zum zentralen Schlagwort der Pandemiebekämpfung. Tatsächlich trifft der Begriff die gesellschaftliche Entwicklung des vergangenen Jahres sehr gut: Die Gesellschaft hat sich sozial distanziert. Die Narben, die das hinterlässt, sind so tief, dass sie uns wahrscheinlich noch länger begleiten werden.

Das hat zwei Ebenen. Zum einen die Vertiefung der sozialen Spaltung. In Krisenzeiten verschärfen sich Ungleichheiten. Und so hat die Pandemie auch nicht alle gleich hart getroffen: Während viele mit den Folgen von Kurzarbeit, Jobverlust oder anderen Folgen der Lockdowns zu kämpfen haben, konnten andere ihr sowieso schon großes Vermögen noch vergrößern.

Die Jungen leiden besonders

Besonders langwierig können die sozialen Folgen durch Unterrichtsausfall werden. Im Frühling 2020 dachte man noch, die Schließung der Schulen sei eine kurzfristige Übergangsmaßnahme bis zu den nächsten Ferien. Inzwischen sehen die Schüler*innen seit mehr als einem Jahr ihre Schulgebäude nur noch unregelmäßig von innen. Das staatliche Bildungssystem hatte immer eine ganz wichtige soziale Funktion, die durch Distanzunterricht nicht voll aufgefangen werden kann. Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom sozialökonomischen Hintergrund wird verschärft.

Und es betrifft viele weitere Bereiche: Die Anzahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist 2020 fast zehn Prozent zurück gegangen – 2021 wird es kaum besser werden. Und wie viele junge Menschen, die finanziell nicht von den eigenen Eltern unterstützt werden können, wird die unsichere finanzielle Lage davon abhalten, ein Studium zu beginnen?

Begegnungen kommen zu kurz

Vor allem die Auswirkungen der Pandemie auf das Bildungssystem können zu langwierigen sozialen Verwerfungen führen. Und dann gibt es noch die zweite Dimension:

Corona hat die Orte sozialer Begegnung geschlossen: Der Lieferservice des Restaurants hilft vielleicht finanziell ein bisschen über die Runden und sorgt auch für gutes Essen, aber Restaurants und Kneipen fehlen als Orte, an denen Menschen sich begegnen, diskutieren, Gemeinschaftsgefühl entwickeln. Der Livestream von Kulturveranstaltungen ist ganz nett, aber vom Theater bis zum Festival ist Kultur ein Gemeinschaftserlebnis. Ganz hart trifft die Krise die Vereine, die vor Ort Zusammenhalt schaffen. Sportvereine, der Schützenvereine, Heimatvereine, Karnevalsvereine – alle trifft die Pandemie hart.

Klar bleibt die Hoffnung, dass die Pandemie bald überwunden ist und Menschen sich sofort wieder in Kneipen, Kultureinrichtungen und Vereinen treffen – aber wird das wirklich alles automatisch wiederkommen? Sportvereine haben beispielsweise durch Corona mit sinkenden Mitgliedszahlen und Ehrenamtlichen und großen finanziellen Problemen zu kämpfen, wie die Sporthochschule Köln Anfang des Jahres festgestellt hat. Es steht zu befürchten, dass die Orte sozialer Begegnung noch länger unter den Folgen der Pandemie zu leiden haben werden.

Eine Gesellschaft, in der die solidarisch organisierten Bindungen abnehmen, ist das Idealbild des neoliberalisierten Kapitalismus. Wenn sogar im Homeoffice der Kontakt zu den eigenen Kolleg*innen so eingeschränkt ist, dass man sich nicht gemeinsam organisiert, und Debatte nur noch in den Filterblasen der sozialen Netzwerke stattfindet, wird das Wegbrechen von Bindungen auch zu einer Gefahr für Demokratie und Mitbestimmung.

Das Soziale muss im Mittelpunkt stehen

Dagegen braucht es politische Antworten. Nach Corona muss das Soziale im Mittelpunkt stehen. Das betrifft zum einen Steuer-, Arbeits- und Sozialpolitik. Die Besteuerung von Vermögen muss gerechter, Mitbestimmung und Tarifbindung gestärkt, der Mindestlohn erhöht, eine Ausbildungsgarantie geschaffen und der Sozialstaat auf die Herausforderungen der Zeit angepasst werden.

Um die Begegnungsräume vor Ort zu stärken, müssen aber auch die Kommunen stärker in den Blick genommen werden. Es braucht mehr finanzielle Spielräume, um Gemeinschaft vor Ort zu organisieren. Und es braucht eine Fortschrittspolitik, die die Gesellschaft nicht spaltet, sondern Herausforderungen wie die Digitalisierung und den Klimawandel als solidarisches Gemeinschaftsprojekt angeht.

Denn wenn das Soziale zu kurz kommt, werden auch alle anderen Herausforderungen scheitern. Darum muss auf die soziale Distanzierung eine soziale Annäherung folgen.

Zum Autor: Micha Heitkamp ist stellv. Vorsitzender der Mühlenkreis-SPD und Mitglied im Landesvorstand der NRWSPD/der Artikel ist zuerst erschienen auf Vorwaerts.de