Versöhnen statt spalten
Als unsere SPD am 16. Dezember 1985 in Ahlen Johannes Rau zum Kanzlerkandidaten kürt, erklärt der NRW-Ministerpräsident in seiner Rede: „Liebe Freunde, unser Land braucht soziale und demokratische Politik. Wir grenzen nicht aus. Wir lassen eine weitere Spaltung unseres Volkes nicht zu” und er betont: „Das Ideal meiner Politik ist es, das Leben der Menschen im Laufe der Jahre ein Stückchen menschlicher zu machen“. Am heutigen 16. Januar wäre Johannes Rau 90 Jahre alt geworden. Das Motto seiner „Ahlener Rede“ ist zum roten Faden seines Lebenswerkes geworden und muss im Jahr 2021 mehr denn je Ansporn an uns alle sein: Versöhnen statt spalten.
In den vergangenen Jahren haben vor allem der Trumpismus, die AfD in Deutschland, Viktor Orban in Ungarn, Matteo Salvini in Italien oder Jair Bolsonaro in Brasilien mit Stimmungsmache und Fake News die politische Kultur vergiftet. Die Saat des Misstrauens gegen die staatlichen Institutionen und unsere freiheitliche Demokratie geht mehr und schneller auf: Der Antisemitismus wächst. Der Rechtextremismus scheint wieder salonfähig zu werden. Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen aus der Mittelschicht tragen gemeinsam mit Rechtsextremen ihre Wut und ihre Verschwörungstheorien sogar bis ins Reichstagsgebäude. Auch im Netz stehen sich die Menschen häufig mit Maximalpositionen unversöhnlich gegenüber, Filterblasen und Echokammern haben viele politische Diskurse erstickt. Wir stehen vor einem Scheideweg: Können wir diese Polarisierung wieder einhegen und den Kompromiss als Grundvoraussetzung unserer Demokratie wieder stärker gemeinsam wertschätzen?
In Johannes Raus Geburtstagjahr 1931 erreicht die Weltwirtschaftskrise in Deutschland ihren Höhepunkt. Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg prägen seine Generation. Mit den grausamen Verwerfungen der deutschen Geschichte im Rücken, findet er einen Weg aus der Zeit der Spaltung hin zur Kraft der Versöhnung. Diese Kraft prägt seine acht Jahre als NRW-Wissenschaftsminister, in denen Johannes Rau mit großer Verve neue Hochschulen gründet und die Hochschullandschaft zu den Menschen in die Regionen bringt. Sie prägt auch seine fast 20 Jahre als NRW-Ministerpräsident, in denen der Menschenfischer Johannes Rau unser großes, starkes und vielfältiges NRW unter der Überschrift „Wir in NRW“ eint und durch die harten Zeiten des Strukturwandels manövriert. Und diese Kraft des Zusammenhalts prägt seine Zeit als 8. Bundespräsident, in der er seiner Ankündigung Taten folgen lässt: Er wird der Bundespräsident aller Deutschen und erweist allen Deutschen einen unschätzbaren Dienst: Bei mehr als 30 Besuchen in Israel und den palästinensischen Gebieten hatte er sich bereits um Versöhnung bemüht, um im Februar 2000 bei der ersten Rede eines deutschen Politikers vor der Knesset für die Verbrechen des Holocausts um Vergebung zu bitten. In diesem Sinne hatte Johannes Rau auch bereits in seiner Ahlener Rede betont: „Für mich ist die besondere Beziehung dieser Bundesrepublik Deutschland zum Staat Israel ein bindendes Anliegen.“
Der Mensch stand bei Johannes Rau schon im Mittelpunkt bevor seine SPD daraus einen Slogan formte. Er schaffte es immer sehr schnell, mit Empathie und Interesse für sein Gegenüber persönliche Nähe herzustellen. Er war ein Brückenbauer, der eine heute seltene Fähigkeit beherrschte: Er konnte nicht nur reden, sondern auch Zuhören und unterschiedliche Menschen zusammenbringen.
So viel Spaltung wir in den vergangenen Jahren auch erlebt haben, so hoffnungsvoll stimmen mich am Beginn des Superwahljahres 2021 insbesondere zwei starke Signale der Versöhnung: Die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris kann zu einem neuen Zeitalter der internationalen Kooperation führen und wir haben mit dem wuchtigen Wiederaufbaufonds für Europa eine starke und solidarische Antwort auf die Corona-Krise gefunden. Diese Dynamik müssen wir im Sinne Johannes Raus jetzt aber auch „ohne Angst und Träumereien“ aktiv aufnehmen und für uns in Deutschland einbringen.
Die SPD hat es zu Beginn dieses Superwahljahres 2021 – ausnahmsweise – mal einfacher als andere Parteien: Wir stehen bereits seit August 2020 geschlossen hinter unserem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, der mit hanseatischer Prägnanz „Versöhnen statt spalten“ für die Neuzeit in „Respekt“ übersetzt hat. Die anderen Parteien müssen sich jetzt erst noch sortieren, aber klar ist schon jetzt: Bei aller gebotenen politischen Auseinandersetzung müssen alle Parteien ihrer Vorbildfunktion gerecht werden und die Fairness zur gemeinsamen Basis der Wahlkämpfe machen.
In seiner „Ahlener Rede“ hat Johannes Rau eine weitere Herausforderung benannt, die 2021 in Corona-Zeiten unsere Demokratie und unsere Wahlkämpfe prägen wird: Die Frage nach der gerechten Lastenverteilung, „Sparen müssen wir – aber die Lasten müssen gerechter verteilt werden.“ Übertragen auf die aktuelle Lage im Jahr 2021 ist dabei klar, dass wir weiterhin mit entschlossenen Zukunftsinvestitionen wichtige Impulse für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung setzen müssen. In jedem Fall werden wir die Frage nach der Lastenverteilung im Wahlkampf ehrlich thematisieren und solidarisch beantworten müssen, um unsere politische Kultur zu bewahren und unsere Demokratie zu schützen. Dieses gemeinsame Ziel können wir nur erreichen, wenn wir gegenseitig Respekt zeigen und endlich wieder mehr versöhnen statt zu spalten. Dafür wird eine starke und geeinte Sozialdemokratie als Kraft für Versöhnung, Respekt und Zukunftsverantwortung umso dringender gebraucht – bei uns in NRW, im Bund und in Europa.
Zum Autor: Achim Post ist SPD-Bundestagsabgeordneter für den Kreis Minden-Lübbecke und stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion