Die Krise der politischen Linken

Während die SPD in der Ambitionslosigkeit der Dauer-GroKo untergeht, zieht sich die restliche politische Linke in die Filterblasen zurück. Eine linke kulturelle Hegemonie ist so nicht in Sicht, daran ändert auch das Erstarken der Klimabewegung nichts. Will die Linke mehrheitsfähig werden, braucht sie übergreifende Solidarität und darf sich mit dem spaltenden Individualismus nicht länger gemein machen.

Es steht nicht gut um die politische Linke: Seit 14 Jahren regiert die CDU. Wäre nach der Bundestagswahl 2005 noch eine Mehrheit aus SPD, Grünen und Linkspartei rein rechnerisch möglich (praktisch aber nicht denkbar) gewesen, rückte eine gesellschaftliche Mehrheit links der Mitte im letzten Jahrzehnt in immer weitere Ferne. Die SPD wurde zweimal in die große Koalition gedrängt. Der Versuch von Sarah Wagenknecht, eine von oben organisierte linke Bewegung zu initiieren, konnte nur scheitern.

Und die „außerparlamentarische“, sich gesellschaftlich unterschiedlich organisierende Linke zerfasert sich in immer kleinteiligere Grabenkämpfe. Linke berauschen und zerfleischen sich an theoretischen Filterblasendebatten ohne praktische Konsequenzen zu Israel, Genderfragen oder ähnlichem. Kurzum: Der eine „etablierte“ Teil der politischen Linken versucht also die herrschenden Verhältnisse zu verteidigen; der andere „außerparlamentarische“ Teil der Linken zeigt kaum Interesse daran, das System in seinen Grundfesten zu verändern! Damit ist die politische Linke insgesamt so weit von der kulturellen Hegemonie entfernt wie schon lange nicht mehr. Zur Stimme des Protestes gegen die herrschenden Verhältnisse werden dagegen für viele Menschen immer mehr die Rechtsradikalen.

Bei der Sozialdemokratie zeigte sich im Europa-Wahlkampf ein Tiefpunkt – nicht nur im Wahlergebnis, sondern vielmehr in der strategischen und inhaltlichen Fähigkeit, die Stimmung der Menschen zu erkennen. Dass jede politische Aktion mit dem „Sagen, was ist“ beginnt, müsste die SPD eigentlich noch von ihrem Gründer Ferdinand Lassalle wissen. Im Europawahlkampf aber lief die Spitzenkandidatin den gesamten Wahlkampf im Europa-Hoodie umher – mit ihrer Familiengeschichte als zentraler Botschaft. Die Kernaussage der SPD lautete: „Europa ist toll. Und wir sind die, die Europa am tollsten finden.“ Dabei ging die zum Teil neoliberale europäische Politik der vergangenen Jahrzehnte für viele Menschen zunächst einmal mit höherem Druck im Wettbewerb einher. Gerade für sozialdemokratische Klientel wurde Europa damit nicht nur zur Chance, sondern ebenso zur Drohkulisse. Gesehen wurde das zwar. Aber, so hieß es dann hinter vorgehaltener Hand, das solle man jetzt besser nicht aussprechen, weil es ja den NationalistInnen Recht gebe. Die Gewöhnung an die Koalition mit Angela Merkel und ihren entpolitisierenden Stil hat offensichtlich dazu geführt, dass es der SPD an Mut fehlt, das auszusprechen, was ist – und progressive Lösungswege dafür zu entwerfen.

Die sozialdemokratischen Ambitionslosigkeit in der GroKo ist die eine Seite der aktuellen Krise der politischen Linken. Aber die andere Seite ist geprägt von einer zwar sehr pluralen, jungen, in der Regel „außerparlamentarischen“ Linken, die sich aber in einem einig ist: Sie gefällt sich darin, Recht zu haben und die größtmögliche Anerkennung in der eigenen Filterblase zu bekommen – was sicherlich durch die Mechanismen sozialer Netzwerke verstärkt wird. Man könnte sagen, die Gründungsidee des politischen linken Denkens war die Erkenntnis von Karl Marx, dass es darauf ankommt, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Diese Erkenntnis spielt in den verschiedenen linken Szenen – von der erlebnisorientierten Szene professioneller DemonstrantInnen bis zur Szene der Twitter-Empörten – in der Praxis keinerlei Rolle. Und so sind es die Rechtsradikalen, die die Unzufriedenheit über die Auswirkungen des Kapitalismus aufgreifen und als einzige politische Kraft scheinbar die Systemfrage stellen.

Doch es scheint neue Hoffnung zu geben: Die Grünen legen in Umfragen und bei Wahlen kräftig zu, mit Fridays for Future gibt es tatsächlich wieder eine von unten kommende politische Bewegung mit Veränderungswillen und mit Greta Thunberg sogar eine charismatische Führungsfigur mit globaler Wirkung. Ist also die Klimabewegung endlich die Chance, die politische Linke zu einen, Mehrheiten zu erringen und eine neue linke Hegemonie aufzubauen? Es bleiben Zweifel.

Die ökologische Debatte ist derzeit stark dominiert von Konsum-Kritik: Flüge, Fleisch, große Autos. Wer falsch konsumiert, gerät schnell in die Kritik. Die Ausprägungen der Klimabewegung sind eigentlich mit Blick auf die Debatten und Richtungen dieser Zeit nicht sehr überraschend. Sie sind zum einen geprägt von dem technokratischen Demokratie-Verständnis der Merkel-Ära. In diesem Verständnis gibt es wissenschaftlich berechenbare und universell gültige Antworten, die die Politik einfach alternativlos umsetzen muss. Merkel meinte damit die neoliberale Ausprägung der europäischen Wirtschaftspolitik, die Klimabewegung bestimmte Maßnahmen zur Verringerung des Konsums. Mit dem kritischem linken Denken passt dieses technokratische Demokratie-Verständnis nicht überein.

Zum anderen ist die gegenwärtige Klimabewegung geprägt von den Diskursen einer postmodernen Linken. Diese Diskurse werden oft als Identitätspolitik bezeichnet. Der Name stammt daher, dass in den Argumentationslinien die eigene Identität einen höheren Stellenwert bekommt als das sachliche Argument. Aus der eigentlich guten Idee des „intersektionaler Feminismus“ (also einer Ausweitung der feministischen Analyse von Diskriminierungen auf andere Diskriminierungsfaktoren wie Sexualität, Hautfarbe, Herkunft usw.) ist ein bizarrer Wettbewerb um die schlimmste Beschreibung der eigenen Diskriminierung geworden. Die Echokammern der Social Media-Filterblasen verstärken diese Entwicklung: In der Filterblase mit den Menschen, die die selbe Diskriminierung spüren, ist es warm und gemütlich. Kalt, anstrengend und schier unerträglich scheint es hingegen, die eigentlichen Machtfragen in der Breite der Gesellschaft zu stellen. Und so bleibt in diesen Filterblasen die Notwendigkeit, für die eigene Position zu argumentieren, um damit Mehrheiten zu finden, auf der Strecke. Als DIE ZEIT einen klugen Artikel von Michael Bröning zu den Problemen der Identitätspolitik mit dem Titel „Karl Marx war auch nur ein alter weißer Mann“ versah, diskutierte ein Teil der linken Szene im Anschluss nicht über seine Argumente, sondern über die Frage, ob man Karl Marx, dessen Großvater Rabbi war, überhaupt als weißen Mann bezeichnen dürfe.

Wenn schon bei der Marx-Lektüre die Frage nach der Identität wichtiger wird als die Frage nach dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, werden die ökonomischen Spaltungen quasi selbst zum „Nebenwiderspruch“ der verschiedenen Arten von Diskriminierung. Und genau an dieser Stelle kreuzt sich die postmoderne Linke mit der Klimabewegung: In ihrer Gefahr, zu einem Klassenkampf von oben nach unten zu werden. Die TeilnehmerInnen der Fridays for Future Demonstrationen haben im Vergleich zur Gesamtgesellschaft überdurchschnittlich oft Eltern mit akademischer Bildung und haben auch selbst sehr gute wirtschaftliche Perspektiven. Natürlich ist es vollkommen legitim und in der aktuellen klimapolitischen Lage auch notwendig, wenn man sich mit höherem Bildungsabschluss für mehr Klimaschutz einsetzt. Wenn dabei aber die soziale Frage ausgelassen wird, spielt man mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft und auch mit der Mehrheitsfähigkeit der eigenen Forderung.

„Wenn man Klassen und Klassenverhältnis einfach aus den Kategorien des Denkens und Begreifens und damit aus dem politischen Diskurs entfernt, verhindert man aber noch lange nicht, dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern zu tun haben“, stellt Didier Eribon in seiner „Rückkehr nach Reims“ sehr selbstreflektiert fest. Um von oben nach unten zu spalten, ist es nicht zwingend notwendig, bewusst Privilegien für Gutsituierte zu fordern. Es reicht schon die Entfernung der sozialen Frage aus dem Diskurs.

Eribon verwendet dabei den Begriff der Klasse im Sinne Pierre Bourdieus: Geschmack als bevorzugtes Mittel von Klasse. Das heißt: Die Filterblasen bilden sich eigene kulturelle Ausdrücke – zum Beispiel diskriminierungsfreie Sprache in links-feministischen Zirkeln oder vegane Ernährung in klimabewegten Kreisen. Dieser eigene Geschmack wird zum moralischen Maßstab politischer Bewertung. Wer die kulturellen Ausdrücke nicht beherrscht, bekommt dann schnell Verachtung zu spüren. Was sollen sich denn Beschäftigte in der rheinischen Braunkohle-Industrie denken, wenn grüne Abgeordnete die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz mit Nazis gleichsetzen („Ob Nazis oder Kohle, braun ist immer scheiße“)? Oder die Menschen aus den deindustrialisierten Regionen in den USA, die von den Reichen und Mächtigen aus den Küstenregionen nur als „flyover states“ verspottet werden? Oder junge Menschen, die nicht zum Studium nach Berlin ziehen, sondern zuhause bleiben, eine Ausbildung machen und sich immer wieder anhören müssen, wie lahm die Provinz doch im Gegensatz zur hippen Großstadt ist? Diese Menschen merken sehr wohl, dass die kulturellen Ausdrücke ihrer Klasse von der politischen Linken kaum noch ernstgenommen werden. Diese tief gehende Spaltung zwischen linken In-Groups und zentralen Teilen ihrer politischen Klientel macht es für die Rechtsradikalen leicht, genau diese Menschen anzusprechen.

Liegt also die Antwort darin, die politische Linke wirtschaftlich nach links, gesellschafs- und migrationspolitisch aber nach rechts zu rücken, so wie manche es gerade fordern? Damit würde man es sich zu einfach machen und einen langen Traditionsstrang der politischen Linken einfach abschneiden. Der Kampf für die Gleichstellung der Frau und gesellschaftliche Anerkennung von Minderheiten, der Kampf gegen Rassismus und Faschismus, der Kampf für Solidarität über die Grenzen hinweg gehört zum Wesenskern linker Politik.

Aber es gilt, was Oskar Negt so treffend formuliert: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem spekuliert auf Bindungslosigkeit; wenn der Warenverkehr ungestört ablaufen soll, darf er nicht fortwährend durch Traditionsblöcke und dauerhafte Gebrauchswerte behindert werden. Das gilt nicht nur für den materiellen Warenverkehr, sondern auch für die Beziehungen.“ Wenn die politische Linke nicht nur die „Anywheres“, die gut ausgebildeten Kosmopoliten, die im Zentrum politischer, wirtschaftlicher und medialer Macht stehen, sondern auch die „Somewheres“, die vor Ort verankerten, weniger mobilen Menschen, erreichen will, darf sie sich nicht länger mit der Bindungslosigkeit des Individualismus im neoliberalisierten Kapitalismus gemein machen.

Keine Aufspaltung in immer kleinteiligere Identitäts-Gruppen! Keine Besserwisserei mit dem Verweis, man solle sich doch erstmal mit der Wissenschaft beschäftigen! Keine Darstellung der eigenen Politik als alternativlos! Kein Rückzug mehr in die eigene Filterblase! Stattdessen: Förderung von Solidarität über kulturelle und wirtschaftliche Grenzen hinweg! Solidarische Organisation statt Individualismus hat die Linke immer stark gemacht. Sehr konkret lässt sich das etwa an gewerkschaftlicher Organisation und Bildungsarbeit festmachen.

Die Themen dafür liegen auf der Straße: Gute und sichere Arbeit; Herstellung einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Infrastruktur; Umverteilung von oben nach unten; Organisation breiter lokaler Bündnisse zur praktischen antifaschistischen Arbeit; Bündnisse für politische Bildungsangebote, die sich nicht nur an einen kleinen Kreis von AkademikerInnen richten. Mit diesem Themen könnte sich außerparlamentarisch die linke Szene mit Gewerkschafts- und Klimabewegung solidarisieren, während die Sozialdemokratie realpolitisch Veränderungen umsetzt und neue Perspektiven auf Mehrheiten links der Mitte schafft.

Was die notwendige kulturelle Öffnung betrifft, hat Kevin Kühnert das schon sehr praktisch beschrieben: Er nennt Fußballstadien als einen der wenigen Orte, wo sich wirklich noch die verschiedensten Menschen mit einem gemeinsamen Interesse treffen. Ob es im Großen die Fußballstadien oder im Kleineren die Fußballplätze oder Handballhallen der kleineren Vereine aus dem Stadtteil oder Dorf sind, seien es die Eckkneipen oder Trinkhallen: Diese Orte müssen endlich wieder zu wichtigeren Resonanzräumen werden als Filterblasen-Diskussionen auf Twitter.

Der Artikel ist zuerst erschienen auf Ruhrbarone.de

Zum Autor: Micha Heitkamp ist stellv. Vorsitzender der Mühlenkreis-SPD und Vorsitzender der JusosOWL