Der Tag der Befreiung als Angebot zur Versöhnung
Ich persönlich habe den 8. Mai nie mit einer Niederlage in Verbindung gebracht. Als Nachwendekind war die deutsche Teilung als direkte Auswirkung des Zweiten Weltkriegs überwunden und Krieg kannte ich allenfalls aus dem Fernsehen. Dann war er aber weit weg im Kosovo, dem Irak, Afghanistan oder Hollywood. Deutsche Kriegserfahrungen kannte ich nur über Gespräche mit meinen Großvater auch wenn wir im Nachhinein zu wenig darüber gesprochen haben.
Das war am 8. Mai 1985 anders als der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker meiner Meinung nach die wichtigste Rede im Nachkriegsdeutschland gehalten hat. Unter seinen Zuhörer*innen waren viele, die den Krieg noch erlebt hatten. Und die Verbände der Vertriebenen, wo viele aus ihrer Heimat fliehen mussten, waren damals noch eine politische Macht. Von Weizsäcker sprach deshalb von unterschiedlichen Gefühlen, die mit diesem Tag verbunden seien. Davon, dass Sieg oder Niederlage diese Gefühle beeinflussen würden. Aber er sprach auch davon, dass es für die Deutschen kein Tag des Feierns sei könne, weil sie mit dem Krieg so viele Erinnerungen verbunden hätten.
Er wollte jene Wunden nicht wieder aufreißen wollte, die als Narben an Bombennächte, Fronterfahrung oder den Verlust von Angehörigen in der Erinnerung zurückgeblieben sind. Das macht seine Rede so großartig, weil sie klar antifaschistisch ist und doch denjenigen eine historische Einordnung des 8. Mai gibt, die mit der Niederlage gehadert haben: Von Weizsäcker sprach von einem „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Und er hatte Recht damit.
Wie großartig dieser Schritt war, zeigt sich anekdotenhaft daran, dass zwar schon die Regierung Willy Brandts 1970 den 8. Mai als Tag der Befreiung angegangen war, aber die Unionsfraktion sich der Feier entzog: „Niederlagen feiert man nicht.“ Dieses Selbstverständnis als eine Vertretung derjenigen, die noch mit der deutschen Niederlage zu hadern hatten, konnte nur ein Christdemokrat brechen. Deshalb ist die Rede von Weizsäckers für alle Deutschen das Versöhnungsangebot, was Willy Brandt fünfzehn Jahre zuvor mit dem Kniefall von Warschau für Europa gemacht hat.
Für mich bleibt dabei die Erkenntnis, dass antifaschistisches Engagement demokratischer Konsens sein muss und nur im demokratischen Konsens stattfinden kann. Die mittlerweile allgemeine Akzeptanz des 8. Mai als ein Tag der Befreiung spiegelt genau diesen Konsens wider. Wer wie Alexander Gauland im Jahr 2020 immer noch von einem „Tag der Ambivalenz“ oder der „absoluten Niederlage“ spricht, hat von Weizsäckers Rede nicht verstanden oder will sie nicht verstehen. Das ist nicht konservativ. Es ist reaktionär und will in eine Zeit zurück, wo Deutsche den Verlust ihrer Heimat mehr betrauert haben als den Gewinn an demokratischer Freiheit.
Trotzdem sind seit der Rede inzwischen fast genauso viele Jahre ins Land gegangen, wie vom Zeitpunkt der Rede zum 8. Mai 1945. Deutschland hat sich seit Mitte der 80er Jahre sehr verändert: Die deutsche Teilung ist überwunden und wir sind mitten in Europa. Der Systemgegensatz existiert nicht mehr. Viele in meiner Generation sehen sich mindestens so sehr als Europäer*innen wie als Deutsche. Es ist der richtige Zeitpunkt die Debatte wieder aufzunehmen und weiter zu diskutieren.  Manchmal können Dinge eben auch erst ausgesprochen werden, wenn genug Zeit vergangen ist.
Ich war der Holocaust-Überlebenden und Vorsitzenden des Auschwitz-Komitees Deutschland, Esther Bejarano, deshalb sehr dankbar, dass sie in einem offenen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert hat, den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus zum Feiertag zu erklären.
Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Der Tag der Befreiung muss in ganz Europa ein Feiertag werden. Von Weizsäcker hat in seiner Rede bereits die europäische Dimension des 8. Mai ins Gespräch gebracht. Die Europäer*innen haben zwar unterschiedliche Erfahrung mit dem Faschismus gemacht, doch sie alle wurden von ihm befreit. Und wer Bejaranos Vorschlag ernst nimmt und den 8. Mai nicht als reine Vergangenheitsbewältigung sieht, findet sicher keinen Grund gegen einen europäischen Feiertag zu sein. Denn ein Feiertag, der sich mit Antifaschismus, Demokratie und Menschenrechten beschäftigt, wäre ein Gewinn alle Menschen in Europa.
In einigen europäischen Ländern wie Frankreich wird der Tag bereits als Feiertag begangen. Als gemeinsamer europäischer Feiertag würde er aber ein identitätsstiftendes Angebot sein für all diejenigen sein, die sich auf Grund der Renationalisierung fragen, wofür Europa eigentlich noch gebraucht wird. Es ist ein Angebot zur Versöhnung.
Zum Autor: Jannes Tilicke ist Vorsitzender der Mühlenkreis-Jusos